Nachwort: Wer willst Du gewesen sein?

Genug davon. Ich entziehe den Weiter-Sos jetzt endgültig das Wort.

Zeit für Tacheles. Überspring mal gedanklich ein paar Kapitel Deines Lebens.

56 Grill-Abende später, Du bist 75 Jahre alt und Deine Ärztinnen und Ärzte sind sichtlich irritiert, dass nicht einmal die Reserve-Antibiotika noch bei Dir anschlagen. Es sieht so aus, als würde Dich nicht Dein weit fortgeschrittener Grillfleisch-Darmkrebs demnächst dahinraffen…

Fass mal nach links, da ist Dein künstlicher Darmausgang – seit neuestem gibt es die Dinger auch in den Vereinsfarben Deiner Lieblingsmannschaft, schick!

… den Du Dir eingefangen hast trotz deutlichster, jahrelanger, amtlicher, hoch eingestufter UNO-Krebswarnungen, – also, nicht Dein Grillkrebs wird Dich plattmachen, sondern eine simple Erkältung mit Schnupfen, Hals und Husten.

Heute bist Du zur Abwechslung mal nicht allein, gerade in diesem Moment sitzt Dein Enkelkind an Deinem Krankenhausbett, hält Deine kaltschweißige Hand und fächert Dir die asphaltheiße Sommerluft Hamburgs zu. (Die Klimaanlage ist mangels Strom nicht in Betrieb.)

Opa, erzähl mir von Damals, vom Great Barrier Reef, wie war es da?

bittet Dich Dein Enkelkind. Jedes Mal stellt es diese Frage. Als hätte es Sehnsucht.

Der Pfleger stopft Dir Dein Kissen zurecht, Du hustest braunen Schleim ab, richtest Dich mühsam auf und berichtest, heiser, sanft und leise, wie jedes Mal, wenn Dein Enkelkind Dich danach fragt:

Es war schön, eine wahre Augenweide, Millionen Fische, in allen Farben und Größen, ein Schillern und Blinken, ein Traum… ja, ich war da, ich habe es noch gesehen, vor Abpfiff. War ja nicht teuer… für 246 Euro über Kapstadt, Moskau und Dubai. Ouih, da war es damals heiß… ungefähr so wie jetzt in Hamburg. Dubai… da lebt heute niemand mehr: Glühwarm ist das neue Heiß… Vom Great Barrier Reef ist nichts mehr übrig, wie Du weißt; in Bangladesh herrscht Landunter – und da, wo die Malediven waren, schwappt jetzt der Ozean – aber ich war da überall, Jakarta, Spitzbergen, Tuvalu!

Opa, wie kommt es, dass all Deine Traumschiffziele nicht mehr da sind, nachdem Du dort warst? … Du und Oma, Mama und Papa, Eure Generationen, Ihr habt die Welt konsumiert, stimmts?

Was ist mit mir, was bleibt für mich? Wozu hast Du meine Mutter bekommen, wozu hat sie mich geboren, wenn Ihrschwuppdiwupp, tara – uns doch gleichzeitig die Erde unter den Füßen wegzieht?

Habt Ihr uns auf die Welt gebracht für Euch selbst? Sollte ich für Dich leben oder lebtest Du für mich? Wozu habt Ihr uns auf die Welt gebracht? Zum Zeitvertreib? Als Selbstbestätigung? Für Euch? Selbst? Opa, sind wir Teil Eures egomanischen Weltvernichtungsprogramms? Ihr nehmt nicht nur Rohstoffe, sondern auch unser Leben? Bin ich der Rohstoff für dein persönliches Paradies auf Erden?

Alle haben das gemacht? Und wenn ‚Alle‘ etwas machen, dann ist es okay, dabei mitzumachen? Mitzumachen alles kaputtzumachen? Und uns auszuliefern?

Opa, wie kommst Du damit klar?

Wo warst Du, als es losging?

Wie bist Du da hineingeraten? Ich mein‘, so warst Du doch nicht als Kind, oder? Du hast doch als junger Mensch nicht davon geträumt, an der Reling eines hochhausgroßen Kreuzfahrtschiffes zu stehen, in dessen Schiffsbauch tausende Menschen zu Hungerlöhnen für Dein persönliches Festmahl schuften? Bist Du Cäsar? Spielt Ihr Gott? Bist Du Gott? Der über das Leben von Anderen und aller nachfolgenden Generationen entscheidet?


Ist es demokratisch, wenn die Mehrheit durch Wahlen und Nichtstun entscheidet, dass die jungen Menschen keine Zukunft mehr haben?

Ist es demokratisch, wenn die zukunftslose bzw. zukunftsvergessene Mehrheit durch Wahlen und Nichtstun entscheidet, dass sämtliche nachfolgende Generationen keine Zukunft mehr haben?

Ist es demokratisch, allen Lebewesen auf der Welt, den Pflanzen, den Tieren, den Insekten, Vögeln, Säugetieren, den benutzten Nutztieren, den Haustieren die eigene Lebensweise aufzuzwängen und dadurch das gute Leben auf diesem Planeten unwiderruflich unmöglich zu machen?

Was würde Deine Katze dazu sagen?


Ganz leise, bescheiden und kleingeschrieben möchte ich nebenbei und arglos fragen: Ist das nicht die Ökodiktatur, von der Ihr so gerne schwadroniert? Die Diktatur der Gegenwart auf Kosten der Zukunft?

PS: Eine lebendige, d. h. lebenserhaltende Demokratie braucht mündige, erwachsene, verantwortungsbewusste und Verantwortung übernehmende Bürger:innen. Also, mit Konsument:innen, die doch nur spielen wollen, wird das nix.

PPS: Wenn wir nur spielen wollen und in Ruhe gelassen werden wollen, in Ruhe konsumieren wollen, in Ruhe auf Kreuzfahrt gehen wollen, uns in Ruhe in unserer Bubble dem ewigen Fluss der eingehenden Nachrichten der sozialen Medien hingeben wollen… dann spielen in der ausgehöhlten Demokratie die Lobbyist:innen die Hauptrolle, die sie nur deshalb einnehmen können, weil sie sich den Raum nehmen, der ihnen von den Konsument:innen durch mentale Abwesenheit zur Verfügung gestellt wird.


Opa...

Magst Du nicht antworten? – Mutter sagt auch nie was… Wo bist Du gewesen, als es losging?

Wer bist du gewesen als es begann?

Bist Du der gewesen, der Du sein wolltest?

Opa…?


Zurückgesprungen in die Jetzt-Zeit…, Du bist wieder 56 Grill-Abende weniger alt und weniger krank… noch kannst Du die Frage Bist Du der gewesen, der Du sein wolltest? anders stellen:

Wer wirst Du am Ende Deiner Tage gewesen sein?

Wer willst Du gewesen sein?

Welche Perspektive nimmt man bei der Beantwortung einer solchen Frage ein? Die eigene? Oder kommt es eher darauf an, wie uns diejenigen sehen, die uns am Ende unserer Tage die Hand halten? Obwohl sie schweißigkalt ist? Und Du nach Darm riechst? Also, in diesem Fall: wie Dich Dein Enkelkind wahrnimmt?

Wer willst Du gewesen sein?

  • Ein „Störfall“? – Also Sand im Getriebe des Systems des Untergangs?

Oder

  • Ein reibungsloser „Total-Ausfall?“ – Also Schmieröl im System des Untergangs?

Was ist unangenehmer, für die Seele?

  • Die „Störfälle“ sind die Träumer:innen? – Die reibungslosen Mitläufer:innen, d. h. die „Total-Ausfälle“ die Realisten?
  • Die „Störfälle“ haben die Zeichen der Zeit erkannt und sind folglich die Realisten?
  • Die „Total-Ausfälle“ haben die Union gewählt und damit das weltvernichtende Weiter so – sind sie folglich die Träumer:innen?

Wer ist hier der Träumende? Und wer der Realist?

  • Ist der Weiter-So der Realist? Nun, er glaubt der Realist zu sein, weil er glaubt, dass er glaubt, dass sich nichts ändern wird, weil sich nichts ändern kann, weil sich nichts ändern darf.

Er glaubt, er sei der Realist.

Ich hingegen behaupte: Der Weiter-So ist der Träumende. Weil Weiter so nichts anderes ist als der angekündigte Arschtritt in den zivilisatorischen Abgrund – weil nach einem scheinbaren und bald vorübergehenden Weiter so definitiv nichts, aber auch gar nichts weiter so gehen wird.

Genau, es ist nur noch eine Frage der Zeit. Es ist fast geschafft, nach 200 Jahren Dauerstress. Nichts tun, Hände in den Schoß – und wir haben Historisches vollbracht! Per demokratischen Mehrheitsbeschluss.

Shut up!

Ein anderer Gedanke:

Glaubst Du, dass sich die derzeitige junge Generation widerstandslos auf das Schafott der (Menschheits-)Geschichte legen wird? Ohne jeglichen Widerspruch in die scharfgestellte Rattenfalle tritt? Vertrauensvoll sehenden Auges in Euer Messer läuft? Sich selbst eine Augenbinde aufsetzen wird und würdevoll, ohne zu Zögern über die Schiffsplanke ins Leere schreitet?

Glaubst Du, dass Dein (Enkel-)Kind die Hand zum letzten Gruße erheben wird und mit einem zufriedenen „Danke Opa“ auf den Lippen tiefenentspannt in den zivilisatorischen Abgrund springt? Damit Du grenzenlos und unverschämt Deinem egomanisch-beschissenen Konsumismus frönen konntest?

Stell Dir vor, Du wärst jetzt 20. Und hättest aufgrund Deines jugendlichen Alters gute Chancen, irgendwann in den nächsten Jahrzehnten volle Kanne und mitten hinein in den globalen Zivilisations-Kollaps zu geraten. Du würdest sicher dankbar springen?

Und wenn sie, die jungen Generationen, wenn sie sich doch nicht frohen Herzens bereitwillig aufs Schafott legen wollen sollten, sondern sich wehren und losschlagen…,

… vielleicht, in dem sie sich auf einer Autobahneinfahrt festkleben… sich möglicherweise festkleben, um nicht in den Abgrund einer zerstörten Zivilisation zu rutschen, …

… wenn sie also laut und lauter werden, diese jungen Menschen, die nichts anderes wollen als einfach nur anständig leben und denen manche von uns Alten vorwerfen, sie würden ungerechtfertigte, maßlose Ansprüche stellen, weil sie leben wollen: Wo wirst Du stehen bei Alledem? Wo stehst Du?

Auf der Seite Deines Enkelkindes? An der Seite Deiner Tochter? Deines Sohnes? Auf einer Demo, Hand in Hand mit Deinen Nächsten? Oder doch an der Reling eines CO2-spuckenden Riesenwohnblocks mit Wasser unterm Kiel?

Enkel oder Kreuzfahrt?

Ist das hier die Frage?

Soll das, sollte das hier wirklich, wirklich die Frage sein?

Wenn ja: Wofür entscheidest Du Dich?

Wer bist Du jetzt?

Wer wirst Du gewesen sein? Noch hast Du es in der Hand. Egal, wie viel Zukunft Du noch hast, heute ist ein guter Tag, um anzufangen.

Wer willst Du gewesen sein?

Ich mache Dir einen Vorschlag, nein, ich flehe Dich an – und wenn Du bis hier, bis zum Nachwort gelesen hast, werte:r Leser:in, habe ich Dich wohl erreichen können in dieser gehirnvernebelnden Zeit: Schreibe Deinen Nachruf auf Dich selbst, auch wenn Du noch Zukunft hast… und auch, obwohl üblicherweise andere Leute einen solchen Text schreiben würden über Dich – und Du ihn normalerweise nicht zu lesen bekommen würdest, weil Du ja zu diesem Zeitpunkt bereits tot bist…, egal, tu‘ so, als würdest Du eine Trauerrede auf Dich selbst verfassen, fang‘ heute – fang‘ jetzt, und zwar jetzt sofort an.
Mach‘ Dir einen Kaffee und leg los – denn, wenn Du es auf morgen schiebst, ist dieser kleine funkelnde Lichtmoment bereits Vergangenheit… Jetzt ist der Augenblick, nutze ihn, nutze ihn auch für dich, denn, wenn Du nur stumpf hinein in den Tag lebst, in Deinem Hamsterrad gefangen bist, wenn Du Teil des rasendes Stillstands bist, morgens unreflektiert zum Job taperst und nach Dienst-nach-Vorschrift-Schluss gezielt per Freizeitstress auch das kleinste Über-Dich-Selbst-Nachdenken abtötest, dann weißt Du nicht, wer Du bist. Und erst recht weißt Du nicht, wer Du gewesen sein möchtest.

Du wirst viel über Dich erfahren beim Verfassen Deines eigenen Nachrufs. Versprochen. Vielleicht wird es sogar so sein, dass Du Dich erstmals richtig kennenlernst… Und möglicherweise bist Du ganz anders als Du dachtest, und anders, als Andere von Dir denken?

Bist Du Lobbyist:in/Politiker:in/Ökonom:in/Manager:in oder bist Du ein Mensch? Ich wette, Du bist ein Mensch. Ein Mensch, zitternd vor Angst, ja, aber das macht Dich menschlich, Du Mensch. Du zitterst, weil Du weißt, dass Dein Versuch, mittels Konsum, Kreuzfahrt, Geld, Macht und Ruhm unsterblich zu werden, elendlich scheitern wird. Du hast Angst. Verstehe ich. Ich habe auch Angst. Angst gehört zum Leben. Konsum/Kreuzfahrt/Geld/Macht/Ruhm sind verführerisch, scheinbar bedeutsam und bequem. Aber sie sind keine Lösung, weil die Leere kommen wird. Den Mut aufzubringen, im Hier und Jetzt zu leben: Das ist Teil der Lösung.

Auf welcher Seite wirst Du gestanden haben?

Was ist wirklich wichtig?

Drei kurze Hinweise für Deinen Nachruf auf Dich selbst:

  • Die härteste Währung der Welt ist weder der Dollar noch der Euro.
    Die härteste Währung der Welt und damit auch die härteste Währung Deines Lebens ist Zeit.
  • Man kann nicht Nicht-Handeln.
  • Liebe ist Alles.

Also, Schreibblock raus, Stift daneben:

Enkel oder Kreuzfahrt? … bzw.:

Wer willst Du gewesen sein?


PS:

Deniz Jaspersen: „Planet“, 2017

Fin.


„The Blue Marble“ is a famous photograph of the Earth taken on December 7, 1972 by the crew of the Apollo 17 spacecraft en route to the Moon at a distance of about 29,000 kilometers (18,000 statute miles). It shows Africa, Antarctica, and the Arabian Peninsula. – gemeinfrei.

Das krasse Gegenstück zum Handbuch Weltuntergang:

Im November ’22 erschienen: Eine neue Geschichte der Zukunft.Essays und Leitlinien4Future von Marc Pendzich, vadaboéBooks @ BoD, Paperback, 2. erweiterte Auflage, 138 Seiten, 14 EUR, ISBN: 978-3-75683-875-2 – erhältlich überall dort, wo es Bücher gibt – … mehr – s. a. https://eineneuegeschichtederzukunft.de/